Was wollen wir erhalten? Was können wir umbauen? Wie unterscheiden wir das eine vom anderen?

Fragen, auf die Antworten gefunden werden müssen!

 

Denkmalfachleute können alte Gebäude lesen wie ein Buch. Hierbei können beispielsweise verwendete Formen, Dekorelemente oder Materialien Hinweise auf den jeweiligen Entstehungszeitraum liefern. All diese Informationen dienen als wertvolle Orientierungshilfen für den Umbau eines historischen Gebäudes, und eine solche Bestandsaufnahme vor Ort gehörte daher auch beim Senckenberg-Bauvorhaben zu den ersten Arbeiten. Um aber auch Detailinformationen zu bekommen, die nicht direkt auf (oder unter) den Oberflächen der Wände zu sehen sind, gingen die Fachplaner in Bibliotheken und Stadtarchiven auf die Suche nach Bau- oder Umbauplänen, Abbildungen, Fotos oder Texten über die betroffenen Gebäude. Auch Rechnungen von Handwerkern gaben Aufschluss über den Gebäudebestand, seine Nutzung, seine Zerstörung oder Umbauten. Auf diesem Wege wurden zwei Dokumentationswerkzeuge erarbeitet, die für alle beteiligten Gewerke eine wichtige Datengrundlage sind: Das Raumbuch und die Bauchronologie (Abb. unten).

Das Raumbuch dokumentiert jedes Gebäude Raum für Raum mit Texten und Bildern und ordnet Räume und Ausstattung zeitlich in die Entstehungsgeschichte des Gesamtgebäudes ein. Zur effektiven und wirtschaftlichen Erfassung der ca. 1000 zu bearbeitenden Räume wurde zunächst eine digitale,„Senckenberg-spezifische“ Datenbank programmiert. Die raumweise Eingabe der Gebäude- und Ausstattungs-Informationen vor Ort erfolgte mittels Tablet-PCs über einen Zeitraum von mehreren Wochen. Die Bauchronologie visualisiert diese Informationen in Form eines Grundrisses, in dem die einzelnen Bau- und Umbauphasen zu erkennen sind. Nun kann man Bewertungskriterien erstellen und festlegen, welche Gebäude- und Ausstattungsbereiche von besonderem Wert sind und erhalten werden sollen.

 

Bauwerkschronologie Jügelhaus

Je früher diese Erhebung gemacht wird, umso besser können Denkmalschutz und die Wünsche des Bauherrn nach Modernisierung des Gebäudes unter einen Hut gebracht werden. Jeder Euro, der rechtzeitig in die Bestandsaufnahme als Grundlage für eine spätere Planung gesteckt wird, erspart in der Folge unangenehme Überraschungen in Form zusätzlicher Kosten in mehrfacher Höhe!

 

Ensemble Senckenberganlage

Der Jügelbau und die daran anschließende Senckenbergische Bibliothek bilden zusammen mit dem Museum der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft und dem Gebäude des Physikalischen Vereins (Alte Physik) eine Gebäudegruppe, die zwischen 1904 und 1907 errichtet wurde. Die Gebäude wurden erbaut, um für die immer größer werdenden wissenschaftlichen Institute und das Naturhistorische Museum eine neue Heimstätte zu schaffen. Obwohl die Gebäudekomplexe von zwei unterschiedlichen Architekten entworfen wurden – und der Jügelbau ursprünglich nicht direkt zu Senckenberg gehörte – bildet das Ensemble eine stilistische Einheit. Durch luftige Bogenhallen sind die drei Gebäude miteinander verbunden. Darüber hinaus war der heute nicht mehr vorhandene Uhrturm der Senckenbergischen Bibliothek das symmetrische Gegenstück zu dem Turm der Sternwarte auf dem Gebäude des physikalischen Vereins.

Die architektonische Symmetrie ist zwar mittlerweile nicht mehr gegeben, trotzdem nehmen die Gebäude durch ihre einheitlichen Baumaterialien noch immer aufeinander Bezug: geflammter roter Mainsandstein verbunden mit hellen Wandputzflächen, dunkelgrauen Basaltsockeln und Schieferdächern – so wie es dem damals charakteristischen Frankfurter Erscheinungsbild entsprach.

Vom Eschenheimer Tor in die Viktoriaallee

Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts plante die Dr. Senckenbergische Stiftung einige Neubauten auf ihrem Grundstück am Eschenheimer Tor. Es gelang den Verantwortlichen damals allerdings nicht, die dafür notwendigen Flächen an diesem Standort zu akquirieren. Mit Unterstützung der Stadt Frankfurt erhielt die Senckenberg-Stiftung daraufhin das heutige Gelände an der Viktoriaallee für die Errichtung der Neubauten der Senckenbergischen Bibliothek, des Naturhistorischen Museums und des Gebäudes des Physikalischen Vereins.

1904 begannen die Bauarbeiten an den Gebäuden. Der Jügelbau wurde von der Carl Christian Jügel-Stiftung finanziert und im Oktober 1906 fertiggestellt. In den neobarocken Neubau zog damals die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften ein. Der Bau des Physikalischen Vereins wurde im gleichen Jahr abgeschlossen. Die anfänglich noch nicht mit dem Jügelbau verbundene Senckenbergische Bibliothek konnte ebenso wie das Naturkundemuseum ein Jahr später eingeweiht werden. Der Jügelbau und das Gebäude des Physikalischen Vereins wurden als Unterrichtsanstalten und Forschungsgebäude errichtet und gehörten nach der Gründung der Universität zu den Hochschulbauten.

Kriegszerstörungen und Wiederaufbau

Von den weitreichenden Kriegszerstörungen der Stadt Frankfurt im Zweiten Weltkrieg blieb auch die Senckenberganlage nicht verschont – der Zerstörungsgrad der Gebäude nach zahlreichen verheerenden Bombentreffern betrug etwa 50 Prozent. Besonders die Dächer und oberen Geschosse wurden beinahe komplett zerstört, nahezu alle Fenster waren verloren. Die Innenräume trugen besonders durch eingeschlagene Brandbomben erheblichen Schaden davon.

Eingang Alte Physik

Der Wiederaufbau in den 1950er Jahren wurde zum Anlass genommen, die Alte Physik, die Bibliothek und den Jügelbau einschließlich Erweiterungsbau aufgrund des gestiegenen Raumbedarfs um jeweils ein Geschoss zu erhöhen. Angesichts der unterschiedlichen Gebäudehöhen und der mittlerweile zum Gebäude gehörenden Senckenbergischen Bibliothek erhielt letztere ein neues drittes Obergeschoss, der restliche Bau ein neues viertes Obergeschoss mit darüberliegendem Dach.

Der Wiederaufbau des Jügelbaus, der Senckenbergischen Bibliothek und des Gebäudes des Physikalischen Vereins erfolgten in vereinfachter Form: noch vorhandene Giebel wurden entfernt und die ursprünglichen Mansarddächer durch einfache Walmdächer ersetzt. Auf eine Wiederherstellung der Bauzier wurde weitgehend verzichtet. Einzig der Giebel des Naturmuseums – heute stadtbildprägend – blieb erhalten.

Ansicht von der Senckenberganlage

Der Uhrturm der Senckenbergischen Bibliothek – während des Krieges fast vollständig zerstört – wurde aufgegeben, weshalb die ursprünglich vorhandene Symmetrie zwischen dem Turm der Sternwarte und der Senckenbergischen Bibliothek heute nicht mehr besteht. Auch wenn durch die nicht mehr vorhandenen Bauteile und Dachformen wesentliche Gestaltungselemente fehlen, ist der Ensemblecharakter vor allem auch durch die verbindenden Arkaden auch heute noch präsent. Auch mit den im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg neu entstandenen Geschossen und Dächern der Senckenbergischen Bibliothek, des Jügelbaus und der Alten Physik konnten neue verbindende Elemente geschaffen werden, die das Erscheinungsbild des Ensembles formen.

Von den 1960er bis in die 1990er Jahre wurden überwiegend nur die Innenräume umgebaut, um sie an die veränderten Nutzungsanforderungen anzupassen.

Sind Denkmalstatus und Anforderungen der Gegenwart vereinbar?

Die wechselvolle Geschichte des Ensembles hat zur Folge, dass jedes Gebäude im Grunde mehreren Entstehungszeiten hätte zugeordnet werden müssen (Bauzeit, Wiederaufbau, Umbau, Anbau usw.). Wie sollte man mit einem so heterogenen Baubestand umgehen? Denkmalschutz und Nutzungsanforderungen der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung standen sich diametral gegenüber: Die Denkmalschutzgesetzgebung fordert den Erhalt der historischen Gebäudesubstanz und -ausstattung. Senckenberg verfolgt dagegen das verständliche Ziel, die Räumlichkeiten den zeitgenössischen Erfordernissen in Bezug auf die Sammlungen, Labore und weiteren Funktionsräumen anzupassen, um für die Anforderungen einer global agierenden Forschungseinrichtung auch in Zukunft gerüstet zu sein. Insbesondere die Modernisierung der technischen Gebäudeausrüstung und die Anforderungen bezüglich Arbeitssicherheit und Brandschutz mussten in Einklang gebracht werden.

Und genau hier kommt das oben genannte Raumbuch ins Spiel: In Verbindung mit einer denkmalpflegerischen Bewertung der in diesem Werk zusammengetragenen Fakten konnte nun frühzeitig entschieden werden, in welchen Gebäudeteilen Eingriffe oder Umbauten möglich waren und wo nicht.

Seit fast 200 Jahren ist Senckenberg in der Naturforschung aktiv – seit 1907 ist die Gesellschaft an der Senckenberganlage zu Hause. Mit dem Umbau wird sich die traditionsreiche Institution für die Zukunft rüsten. Und das, ohne die Verbindung zu den Ursprüngen zu verlieren. Dank des beschrittenen Weges zur Bewahrung erhaltenswerter Bausubstanz werden Besucher und Mitarbeiter genau das auch spüren, wenn sie ab 2017 durch die sanierten historischen Gebäude schreiten.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der Zeitschrift SENCKENBERG Natur – Forschung – Museum  144 (Mai/Juni) 2014